Pflege und Digitalisierung, dass beides gut zusammenpasst, daran hatten die Mitglieder des ver.di-Seniorenausschusses für den Bezirk Sachsen-Anhalt Süd laut Ivonne Kalter ihre Zweifel. „Ich habe Britta Meinecke, die Vorsitzende der Gruppe, 2022 bei einer Veranstaltung der verschiedenen Seniorenvertretungen Sachsen-Anhalts kennengelernt“, sagt die Projektmanagerin der Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung (TDG). „Wir haben damals das TDG-Bündnis vorgestellt und unsere Vision davon, wie digitale Innovationen, die Gesundheitsversorgung und den Autonomieerhalt im Alter unterstützen könnten.“ Der Blick in die Zukunft auf Pflegeroboter und Telemedizin wusste nicht sofort zu überzeugen. Insbesondere die ver.di-Vertreterin sei skeptisch gewesen, so Kalter. „Sie sagte jedoch auch ganz klar: Darüber möchte ich reden.“
Einladung ins Innovationslabor
Ein Wunsch, dem das TDG-Team gerne nachkam. Es folgten weitere Begegnungen, mehr Austausch und schließlich eine Einladung in das Future-Care-Lab nach Halle (Saale). Am 12. April verlegte der ver.di Seniorenausschuss seine Klausurtagung daher in das Innovationslabor der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Auf dem Programm: Neueste und künftige Technologien der Gesundheitsversorgung zum Anfassen und Ausprobieren. Auch Projekte der TDG präsentierten sich und nutzten die Chance zum Austausch, wie PD Dr. Heike Schmidt und ihr Team von „Aktiv im Alter“.
Wichtiger Input durch Senior:innen
„Was bringt Sie in Bewegung und was hindert Sie, regelmäßig aktiv zu sein?“, wollte die Medizinerin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaften der MLU zu Beginn von den Senior:innen wissen. Diese ließen sich nicht lange bitten. Sie nannten die Aussicht auf einen Wanderurlaub oder den Spaß am Sport als Pluspunkte für die Bewegung. „Ich müsste mich mehr bewegen, aber durch die Pflege meines Mannes fehlen mir oft die Zeit und die Kraft“, sagte eine Frau in der Runde. „Mein Hobby war das Tanzen“, sagt ein Herr. „Doch dann ist meine Tanzpartnerin verstorben.“ Andere sprachen von Schmerzen als Hindernis für Bewegung.
Für das „Aktiv im Alter“-Team waren die Antworten wichtiger Input für die Weiterentwicklung ihres Bewegungsangebotes. Das Konsortium aus Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen, Psycholog:innen und IT-Expert:innen arbeitet an einem interprofessionellen Versorgungskonzept zur Förderung körperlicher Leistungsfähigkeit älterer Menschen. Eine Schlüsselanwendung sind Mitmach-Videos mit Bewegungsanleitungen. Der Gedanke: Die Senior:innen erhalten ein auf ihre Bedürfnisse und von Physiotherapeut:innen abgestimmtes Bewegungsprogramm und machen die Übungen dann bequem zu Hause. So fallen mitunter lange Anfahrtswege im ländlichen Raum weg und die Anwender:innen bewegen sich, wann und wie es für sie passt.
Erster Praxistest für innovative Anwendung
Im Future-Care-Lab hieß es für die ver.di-Delegation dann auch: Sport frei. Ob im Sitzen oder Stehen, für Anfänger:innen oder Fortgeschrittene, für alle gab es entsprechende Videoangebote. „Ich mache täglich Sport. Für mich dürften die Übungen ruhig noch herausfordernder sein. Ich brauche den Muskelkater“, sagte die 78-jährige Renate Skirl aus Halle nach ihrem Test. „Aber wenn andere Menschen dadurch einen Anstoß für mehr Bewegung bekommen würden, ist das eine gute Sache.“ Für manche ihrer Gewerkschaftskolleg:innen brachten die Videos direkt Impulse für das nächste Heimtraining. Der offene Austausch mit ihrer potenziellen Zielgruppe war für das „Aktiv im Alter“-Team eine Premiere und ein erster Praxistest nach dem Start ihrer Studie.
Einen Raum weiter stellte sich das TDG-Projekt ALiS dem Seniorenausschuss vor. ALiS steht dabei für „Augmented Living Space“ und bedeutet, dass der eigene Wohnraum um eine erweiterte Realität ergänzt wird. Für das Projekt haben sich die Multimediaagentur DENKUNDMACH und der Lehrstuhl für Betriebliches Informationsmanagement der MLU zusammengetan. Entstanden ist der Prototyp eines intelligenten Lampensystems, das Menschen mit kognitiven Einschränkungen mit einem sichtbaren Signal an ihre Schlüssel erinnert, bevor sie das Haus verlassen. Das vor der heißen Herdplatte warnt, aber das auch Rezepte für das Mittagessen an die Küchenwand projizieren kann.
Nach dem Ausprobieren zeigten sich die ver.di-Vertreter:innen begeistert. „Wann ist das Projekt fertig und was kostet das Gerät?“, wollte die 75-jährige Johanna Daberstiel wissen. Sie wolle so lange wie möglich zu Hause leben und sah in der Entwicklung einen nützlichen Alltagshelfer.
Diskutiert wurde trotzdem. Gehe die Darstellung auch größer oder kleiner? Wie sieht es mit Sprachsteuerung aus? Braucht es eine Internetverbindung für das Gerät? „Dieser Austausch ist wichtig für uns und etwas Besonderes“, sagte Martin Böhmer vom ALiS-Team. Auch wenn sie schon mit mehreren Fokusgruppen gearbeitet haben, sei es schwierig, geeignete Testpersonen zu finden. Vom ver.di-Seniorenausschuss waren er und sein Projektpartner Victor-Alexander Mahn begeistert. „Die Gruppe war echt cool, offen und neugierig“, so Mahn. „Wir konnten neue Anregungen mitnehmen, aber auch einige unserer Annahmen bestätigen.“ Für ALiS geht es im nächsten Schritt in die Pilotphase. Die Halle-Neustädter Wohnungsgenossenschaft stellt dem Projekt-Team dafür eine Modellwohnung zur Verfügung.
Seniorenausschuss sieht Politik in der Pflicht
Nach einem vollen Tag im Future-Care-Lab und einem Blick in die Gesundheitsversorgung der Zukunft fiel das Fazit der Besuchergruppe positiv aus. „Ich habe zwar als einziger hier noch ein paar Tage bis zur Rente, aber es ist schön zu wissen, was auf mich zukommt“, sagte Frank Siermann. „Diese Lampe könnte ich schon heute gebrauchen.“
Britta Meinicke kam zu dem Schluss: „Es war sehr gut, dass wir herkommen durften.“ Vom Serviceroboter sei sie zwar nach wie vor nicht überzeugt, aber bei vielen anderen Innovationen des Tages sehe sie die Dringlichkeit, diese für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Für eine wirkungsvolle Umsetzung sei ihrer Meinung nach die Politik gefragt. „Sie haben hier eine wunderbare Einrichtung, wo der Bürger auch mal an Entwicklungen mitarbeiten kann“, sagte die Vorsitzende des Seniorenausschusses.
Als Dank gab es zum Abschluss die ver.di-Kampfente für das TDG-Team. „Ein guter Tag und vielleicht der Anfang für eine weitere Zusammenarbeit“, resümierte auch Organisatorin Ivonne Kalter.